Rekrutierer des "Islamischen Staats" im Interview: "Demokratie ist etwas für Ungläubige"
Von Hasnain Kazim
Wie tickt der "Islamische Staat"? Wie sehen seine Anhänger die Welt? Ein IS-Rekrutierer schildert SPIEGEL ONLINE, wie sich die Extremisten die Zukunft vorstellen. Streitgespräch mit einem kompromisslosen Radikalen.
Die Bedingungen des Islamisten sind streng: Kein Foto, keine Tonaufnahmen, seinen richtigen Namen verrät er sowieso nicht. Ebenso wenig, aus welchem Land er stammt, nur dass er Araber sei. Sein Englisch ist geschliffen, mit britischem Akzent.
Abu Sattar nennt er sich, ein etwa 30-jähriger Mann mit dichtem, schwarzem Vollbart, der ihm bis zur Brust reicht, die Haare über der Oberlippe wegrasiert, den Kopf kahlgeschoren. Er trägt ein schwarzes, bodenlanges Gewand. In einer ledernen schwarzen Aktentasche transportiert er einen in ein Tuch gewickelten Koran.
Abu Sattar rekrutiert in der Türkei Kämpfer für die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS). Er prüft die Gesinnung der Interessenten, die aus vielen Ländern der Welt in die Türkei reisen und von hier in den "Heiligen Krieg" in den Irak oder nach Syrien ziehen wollen. Mehrere IS-Anhänger haben ihn unabhängig voneinander als Gesprächspartner empfohlen. Als jemanden, der am besten erklären könne, wofür der IS stehe. Für viele sei er so etwas wie ein ideologisches Vorbild.
Nach einigem Zögern willigt Abu Sattar in ein Treffen ein. Er vereinbart einen Termin und verspricht, rechtzeitig einen Ort zu nennen. Aber dann lässt er die Verabredung platzen, nur um einen Tag später abermals ein Treffen auszumachen, am Morgen, an einem öffentlichen Platz. Diesmal taucht er tatsächlich auf: ein Mann mit braunen Augen hinter einer rahmenlosen Brille. Er wirkt selbstsicher und streitlustig, bestellt Tee und lässt während des Gesprächs eine Gebetskette mit Holzperlen durch seine Hände gleiten.
SPIEGEL ONLINE: Assalamu alaikum.
Abu Sattar: Sind Sie Muslim?
SPIEGEL ONLINE: Welche Rolle spielt das? Für mich ist Religion Privatsache.
Abu Sattar: Warum sagen Sie dann "Assalamu alaikum"?
SPIEGEL ONLINE: Weil es "Friede sei mit dir" bedeutet und ich es für einen freundlichen Gruß halte.
Abu Sattar: Sie sind also kein Muslim. Wusste ich es doch!
SPIEGEL ONLINE: Warum ist Ihr Denken beim "Islamischen Staat" ständig davon getrieben, die Welt in Gläubige und Ungläubige einzuteilen? Warum ist im "Islamischen Staat" immer alles schwarz und weiß, "wir gegen den Rest der Welt"?
Abu Sattar: Wer hat denn damit begonnen? Wer hat die Welt erobert und versucht, alle fremden Kulturen und Religionen zu unterwerfen? Die Geschichte des Kolonialismus ist lang und blutig. Und sie dauert bis heute an, in Form von Arroganz des Westens gegenüber allen anderen. "Wir gegen den Rest der Welt", das ist die Antriebsformel des Westens. Wir Muslime leisten dagegen endlich erfolgreich Widerstand.
SPIEGEL ONLINE: Sie verbreiten Angst und Schrecken und töten Unschuldige, übrigens vor allem Muslime. Das nennen Sie erfolgreichen Widerstand?
Abu Sattar: Wir befolgen Allahs Wort. Wir glauben, es ist die einzige Aufgabe der Menschheit, Allah und seinen Propheten Mohammed, Friede sei mit ihm, zu verehren. Wir setzen um, was im Koran geschrieben steht. Wenn das gelingt, ist das selbstverständlich ein Erfolg.
Für Salafisten wie Abu Sattar ist der Koran das einzig gültige Gesetz. Sie sind streng schriftgläubig und lehnen es ab, die Schrift zu interpretieren oder gar zu abstrahieren. Abu Sattar und der IS idealisieren die islamische Gemeinschaft zu Lebzeiten des Propheten Mohammed. Nach Auffassung der Salafisten wurde ausschließlich damals der Islam in seiner "wahren Form" gelebt, nur deshalb habe das islamische Reich so schnell expandieren können. Der IS will diese Zeit nun in seiner Lesart wiederbeleben und es den frühen Muslimen gleichtun.
SPIEGEL ONLINE: Finden Sie, dass diejenigen, die anderen Menschen den Kopf abschneiden, gute Muslime sind?
Abu Sattar: Gegenfrage: Finden Sie, dass diejenigen, die mit Kampfflugzeugen afghanische Hochzeitsgesellschaften bombardieren oder die mit vorgeschobenem Grund in ein Land wie den Irak einmarschieren, gute Christen sind? Sind die Verantwortlichen für Guantanamo oder Abu Ghuraib gute Christen?
SPIEGEL ONLINE: Sie weichen aus. Was Sie erwähnen, geschah nicht im Namen einer Religion und wurde im Westen heftig kritisiert. Noch einmal: Was ist für Sie ein guter Muslim? Welche Leute rekrutieren Sie?
Abu Sattar: Ein Muslim ist, wer Allahs Gesetze ohne Wenn und Aber befolgt. Die Scharia ist unser Gesetz, es bedarf keiner Interpretation und keiner von Menschen gemachten Gesetze. Allah ist der einzige Gesetzgeber. Wir stellen fest, dass es genügend Menschen gibt, auch in Deutschland, die die Leere der modernen Welt spüren und sich nach Werten sehnen, wie der Islam sie verkörpert. Wer gegen die Scharia ist, ist kein Muslim. Wir reden mit den Leuten, die zu uns kommen, und prüfen in Gesprächen, wie fest sie in ihrem Glauben sind.
Die Türkei gilt als Zentrum für die Nachwuchsgewinnung des IS. Menschen aus aller Welt, aus Europa, den USA und aus Zentral- und Südasien, reisen nach Istanbul und finden hier Kontakt zu den Extremisten. Nach türkischen Angaben kämpfen auch rund tausend türkische Staatsangehörige im benachbarten "Kalifat".
Die Regierung in Ankara bestreitet, den IS zu unterstützen, ließ aber in der Vergangenheit zu, dass Dschihadisten über die Türkei nach Syrien und in den Irak ins Kampfgebiet reisen. Es gab Belege dafür, dass die Extremisten über die Türkei Lebensmittel, Medikamente, Waffen und Munition beziehen und dass verletzte Terroristen sich in türkischen Krankenhäusern behandeln ließen.
Die Türkei verfolgte in den vergangenen drei Jahren das Ziel, den syrischen Machthaber Baschar al-Assad zu stürzen. Aus diesem Grunde unterstützte sie jeden, der ihm schadete - eben auch islamistische Organisationen. Dass der IS inmitten türkischer Städte Nachwuchs rekrutiert, nahm man zumindest hin.
Abu Sattar blickt jetzt gelegentlich um sich, um zu sehen, ob er beobachtet wird. Er könne seiner Arbeit weiter nachgehen, aber jetzt sei "ein wenig Zurückhaltung" geboten, erklärt er.
SPIEGEL ONLINE: Es gibt weltweit schätzungsweise 1,6 Milliarden Muslime. Viele sind sehr demokratisch, manche sind liberal, andere konservativ, und stellen Sie sich vor, es gibt Hetero- und Homosexuelle unter ihnen. Die meisten teilen Ihre Ideologie nicht. Sie aber tun so, als gäbe es nur eine Art von Muslimen, nämlich die, die Ihre Ideologie teilen. Das ist doch absurd!
Abu Sattar: Demokratie ist etwas für Ungläubige. Ein echter Muslim ist kein Demokrat, weil ihn die Meinung von Mehrheiten oder Minderheiten nicht interessiert. Ihn interessiert, was der Islam zu sagen hat. Im Übrigen ist Demokratie ein Herrschaftsinstrument des Westens und das Gegenteil des Islam. Warum tun Sie so, als bräuchte die ganze Welt Demokratie? Und was Homosexualität angeht, das ist im Koran ganz eindeutig geregelt. Sie ist demnach verboten und zu bestrafen.