Ullrich vor der Tour im Blickpunkt der Ermittler?
MADRID (dpa/sid/AFP). Jan Ullrich soll kurz vor dem Start der Tour de France bei den Ermittlungen in der spanischen Dopingaffäre nach Informationen der Zeitung "El Pais" in den Blickpunkt der Fahnder geraten sein. Die Polizei habe bei Hausdurchsuchungen mit Codes versehene Blutkonserven entdeckt und prüfe nun, ob es eine Verbindung zu dem T-Mobile-Kapitän gebe, berichtete das Blatt am Montag. Einige dieser Präparate seien mit der Aufschrift "Hijo Rudicio" ("Rudicios Sohn") gekennzeichnet gewesen. Hinter "Rudicio" könne sich Teamchef und Ullrich-Mentor Rudy Pevenage verbergen, schrieb "El Pais" unter Berufung auf den als geheim geltenden Ermittlungsbericht. Mit dem "Sohn" könne demnach Ullrich selbst gemeint gewesen sein.
Die mit roten Blutkörperchen angereicherten Blutkonserven sollen nach Angaben des Blattes "Hijo Rudicio" am 1.Mai, wenige Tage vor dem Beginn des Giro d'Italia, verabreicht worden sein. Eine weitere Transfusion sei für den 20. Juni geplant gewesen, also kurz vor dem Start der Tour de France. Die Ermittler seien zudem bei den Hausdurchsuchungen auf Inventarlisten von in Kühlschränken gelagerten Substanzen aus dem Jahr 2004 mit dem Eintrag "Jan" gestoßen.
"Wir nehmen die Lage ernst. Das sind schwere Anschuldigungen", sagte am Montag Christian Frommert, der Sprecher des Bonner Rennstalls. "Wir kontaktieren jetzt alle Beteiligten, Ullrich, die spanischen Ermittlungsbehörden, Pevenage und die Tour-Organisation Aso. Wir untersuchen, wie es zu diesen Vermutungen kommt, und müssen reagieren - so oder so. Aber wir müssen kühlen Kopf bewahren, bislang liegt uns ein Zeitungsartikel vor. Die Fakten- und Beweislage ist im Moment völlig unklar."
"Ich habe nichts mit der Sache zu tun", lautete am Montag Ullrichs Reaktion auf der Internetseite seines Sponsors T-Mobile. "An den Vorwürfen ist absolut nichts dran", teilte Pevenage auf dem gleichen Weg mit.
Der nach Überzeugung der Ermittler von dem Sportarzt Eufemiano Fuentes geleitete Dopingring war Ende Mai zerschlagen worden. Damals hatte der spanische Radiosender Cadena Ser berichtet, Ullrich habe Verbindungen zu dem Mediziner gehabt. Ullrich hatte eine Verstrickung in den Skandal während des Giro d'Italia vehement zurückgewiesen. Der 32 Jahre alte Radrennfahrer sagte damals: "Es ist eine Frechheit, meinen Namen in diesem Zusammenhang zu nennen."
Der Dopingring soll mindestens 58 Radprofis in großem Stil mit präparierten Blutkonserven und anderen verbotenen Mitteln wie Epo, Wachstumshormonen und Anabolika versorgt haben. 15 Fahrer sollen dem ehemaligen LibertySeguros-Rennstall angehört haben, der jetzt unter dem Namen Astana-Würth antritt; für diese Mannschaft, die kürzlich vom Internationalen Radsportverband die ProTour-Lizenz erhalten hat, fahren unter anderen der Tour-Mitfavorit Alexander Winokurow und Jörg Jaksche. Der Ansbacher hatte neulich gesagt: "Ich hatte keinen Kontakt mit Fuentes."
Sportarzt Fuentes, Laborchef Jose Luis Merino, der Direktor des Liberty-Radteams, der Spanier Manolo Saiz, und zwei weitere Verdächtige waren im Mai festgenommen worden. Sie sind inzwischen wieder auf freiem Fuß. Die als Schlüsselfiguren geltenden Fuentes und Merino mußten jeweils eine Kaution von 120000 Euro hinterlegen, um aus der Untersuchungshaft entlassen zu werden.
"Vor zwei Jahren war die Organisation noch kleiner, und die Namen der Rennfahrer stehen direkt auf den Blutbeuteln", schrieb "El Pais". Der Name "Jan" habe auch auf Quittungen für Käufe von Dopingmitteln im Wert von 1900 Euro gestanden, die die Ermittler fanden, so die Zeitung weiter. Ullrichs Teamkollege, der Spanier Oscar Sevilla, der früher bei Kelme unter Vertrag stand, als Fuentes dort Teamarzt war, wird nach spanischen Medienberichten auch mit dem Dopingnetzwerk in Verbindung gebracht. Der Rennfahrer, der auf Aufnahmen der Polizei zu sehen ist, wie er zu Fuentes kommt, versicherte allerdings seinem Team, er habe dort "nur Leistungstests" vorgenommen. Laut "El Pais" sagte Sevilla allerdings zu seinen Rennsportkollegen: "Wenn sie mich rauswerfen, müssen sie Ullrich auch rauswerfen, er steckt auch mit drin."
T-Mobile nominierte Sevilla für die am Samstag in Straßburg beginnende Tour de France. Nachdem Sevillas Name in Zusammenhang mit der Affäre genannt worden war, hatte sich die Teamleitung von T-Mobile von allen 29 Profis schriftlich bestätigen lassen, nichts mit Fuentes' illegalen Praktiken zu tun gehabt zu haben. Auch Sevilla unterschrieb. Bei T-Mobile hieß es, man werde es nicht an der sofortigen Konsequenz fehlen lassen, sollte sich herausstellen, daß ein Teammitglied "eine Erklärung abgegeben hat, die nicht der Wahrheit entspricht".
Text: F.A.Z., 27.06.2006, Nr. 146 / Seite 39