Südwestdeutsche Zeitung
„Es war schon eine kritische Situation“
Weinstraße: Menschengedränge trotz Coronakrise
Von Rolf Schlicher
Neustadt/LANDAU. Frühlingshafte Temperaturen und strahlender Sonnenschein hatten am Sonntag an der Weinstraße zu einem teilweise ungebremsten Ansturm von Ausflüglern geführt. Wanderziele waren überfüllt, immer wieder gab es Gedränge. Wieso blenden so viele Menschen das Risiko einer Infektion mit dem Coronavirus immer noch aus?
Die Absage des Gimmeldinger Mandelblütenfestes hielt beispielsweise Tausende nicht davon ab, dennoch am Sonntag den Neustadter Ortsteil mit seiner Flaniermeile zu besuchen. Weinfestartiger Andrang herrschte auch anderswo. Beispielsweise am Ortsrand von Diedesfeld im Süden Neustadts: Dort ist bei solchem Wetter die Vinothek Isler mit ihrem großen Außenbereich und dem Blick zum Hambacher Schloss stets ein Anziehungspunkt. Auch am Sonntag saßen, standen und hockten die Gäste teils dicht gedrängt beim Glas Wein im Freien. „Es war schon eine kritische Situation“, sagte am Montag Helmut Isler.
In den Innenräumen habe man versucht, die vom Land vorgegebene Obergrenze von 75 Leuten einzuhalten: „Es gab nicht immer Verständnis, wenn wir Gäste abgewiesen haben, die Leute sind oft nicht einsichtig“, sagte Isler. Draußen im Außenbereich war das Gedränge ohnehin nicht zu kontrollieren. Seit Montag ist der Ausschank bei Isler aufgrund „der aktuellen Ansteckungsgefahr“ geschlossen. Grund ist die Verfügung der Stadt Neustadt, die jetzt wie andere pfälzische Städte den Gastronomiebetrieb generell - mit Ausnahme von Speiselokalen und Schnellimbissen - untersagt hat.
Auch am Montag wiederReisebusse in Gimmeldingen
Die Gimmeldinger Ortsvorsteherin Claudia Albrecht war auch am Montag noch fassungslos: „Wir haben das Mandelblütenfest abgesagt, damit das Dorf kein riskantes Gebiet wird, das Gegenteil ist der Fall.“ Denn der Besucherstrom will einfach nicht abreißen.
Am Montag habe sie zwei Reisebusse beobachtet, die ihre Gäste nach Gimmeldingen gebracht haben, sagte Albrecht: „Unverständlich, Achtsamkeit und Rücksicht sind derzeit erstes Gebot; aber leider haben viele den Schuss noch nicht gehört.“ Auf Facebook habe es natürlich zur Absage des Festes einen Shitstorm ohne Ende gegeben, weil die Menschen so uneinsichtig seien.
Vielleicht liegt dies auch daran, dass die übergeordnete Werbung für die gesamte Region bisher nahezu ungebremst weiter läuft. Die Organisation „Pfalz-Touristik“ fordert beispielsweise auf ihrer Internetseite mit verlockenden Fotos der Mandelblüte zum Kommen auf: „Gehen Sie jetzt auf Entdeckungsreise in der Pfalz.“
Geschäftsführer Detlev Janik sagte am Montag, auch in schwierigen Zeiten könne es ja nicht schaden, an die frische Luft zu gehen oder zu wandern. Menschenansammlungen seien dabei natürlich jetzt zu vermeiden. „Was am Sonntag in Gimmeldingen und anderswo passiert ist, das ist verantwortungslos“, sagte Janik. Der Pfalz-Touristik-Geschäftsführer kündigte an, dass man jetzt auf die Internetseite einen Hinweis auf die Auswirkungen der Coronakrise stellen werde.
Darum verdrängen viele Menschen das Ansteckungsrisiko
Doch wieso verleiten Sonne und Pfälzer Feierlaune so viele Menschen dazu, die Ansteckungsgefahr zu verdrängen? Dafür kann Professorin Melanie Steffens gleich mehrere Gründe nennen. „Viren sind ja nun einmal unsichtbar“, sagt die Leiterin des Bereichs Sozial-, Umwelt- und Wirtschaftspsychologie an der Universität Landau. Dazu wirkten die absoluten Infektionszahlen noch gering. Melanie Steffens weiter: „Vermutlich kennen die meisten persönlich noch keine Erkrankten – Beispiele helfen ihnen immer sehr beim Denken.“ Menschen könnten ohnehin schlecht mit Wahrscheinlichkeiten umgehen. Für viele sei in diesem Fall zudem die schnelle Erhöhung des Risikos nur schwer vorstellbar.
Gimmeldingens Ortsvorsteherin Claudia Albrecht hat in diesen Tagen nur einen Wunsch: „Bitte schreiben Sie in Ihrem Bericht, dass die Menschen nicht kommen sollen.“
Kommentar
Unverantwortlich
Von Rolf Schlicher
Ein Tanz auf dem Vulkan und am Abgrund: In der Pfalz waren viele am Wochenende noch einmal im Schoppen-Fieber.
Wer Freunde in Italien hat, der weiß vermutlich: Sie sind fassungslos darüber, wie kopf- und bedenkenlos viele deutsche Normalbürger immer noch mit der sich rasant ausbreitenden Corona-Epidemie umgehen. Schulen und Landesgrenzen werden geschlossen, gleichzeitig verhielten sich am Sonntag entlang der Weinstraße und an den Wanderzielen im Pfälzerwald ziemlich viele Menschen so, als wäre die Welt noch völlig in Ordnung. Die Gastronomie, die Betreiber von Ausflugslokalen und Hütten wollten Umsatz machen, ihre Gäste es sich gut gehen lassen. Auch im Gedränge.
„Die gesamte Weinstraße war voll von unachtsamen Unverständigen. Ich bin fassungslos über so viel Verantwortungslosigkeit und Gleichgültigkeit“, sagt die Gimmeldinger Ortsvorsteherin Claudia Albrecht. Sie hat völlig recht. Denn seit Freitag ist auch anhand der Pfälzer Infektionszahlen erkennbar, was passieren wird, wenn das Schoppen-Feier-Fieber weiter den Verstand ausschaltet. Die Anzahl der Fälle verdoppelt sich alle zwei bis drei Tage. Wenn die Ausbreitung der Epidemie in dem Tempo tatsächlich weiterginge, dann wären es bis Ostern allein in der Pfalz über 70.000 Erkrankte.
Viele Pfälzer Kommunen haben am Sonntag zusätzlich zu bereits bestehenden Auflagen ein Verbot für Gastronomiebetriebe und Vergnügungsstätten erlassen, das seit Montag in Kraft ist. Für den Ausflugsrummel am Sonntag kam das zu spät. Den Kommunalpolitikern ist das nicht anzulasten. Sie können nichts dafür, dass ein Teil der Bevölkerung den Ernst der Lage immer noch nicht erkannt hat.
50 Prozent mehr Infizierte
In Rheinland-Pfalz hat sich die Anzahl der bekannt gewordenen Corona-Fälle innerhalb von 24 Stunden um 50 Prozent erhöht. Der Mainzer Landtag tritt am Mittwoch mit einer verringerten Anzahl an Abgeordneten zusammen. Die Notbetreuung an den Schulen wird nur wenig nachgefragt.
MAINZ/NEUSTADT/CARLSBERG. Mit Stand 11 Uhr war am Montag bei 297 Rheinland-Pfälzern eine Infektion mit dem Coronavirus bekannt geworden. Zum Vergleich: Am Sonntag lag die Anzahl der Corona-Patienten noch bei 200 Personen. Die höchste Fallzahl hat mit 38 Infizierten der Landkreis Mayen-Koblenz erreicht. Am Sonntag waren dort lediglich 13 Menschen nachweislich erkrankt.
Das rheinland-pfälzische Gesundheitsministerin hat die Landräte und Oberbürgermeister per Erlass ermächtigt, Besuche unter anderem in Krankenhäusern, Vorsorge- und Reha-Einrichtungen und stationären Pflegeeinrichtungen für bestimmte Personengruppen zu verbieten. Dieses Verbot gilt für solche Besucher, die mit einer infizierten Person Kontakt hatten oder die sich in den vergangenen 14 Tagen in einem Risikogebiet aufgehalten haben.
Geringe Nachfrage nach Betreuung in den Schulen
Nachdem die Landesregierung die rheinland-pfälzischen Schulen wegen des Coronavirus geschlossen hatte, ist die angebotene Notbetreuung nur in geringem Umfang genutzt worden. Laut dem Mainzer Bildungsministerium erschien an 1147 der landesweit 1596 Schulen am Morgen kein einziger Schüler. Lediglich in 252 Schulen sei eine Notbetreuung in Anspruch genommen worden. Dort hätten sich die Lehrer um 731 Schüler gekümmert. Knapp 200 Schulen hatten zunächst noch keine Zahlen an das Ministerium gemeldet. Auch Daten zur Nachfrage nach den Notfall-Betreuungsplätzen aus den Kindergärten sollen erst Mitte der Woche vorliegen.
Kritik an der Organisation des Notbetriebs in den geschlossenen Schulen kam vom Lehrerverband VBE. Der stellvertretende Landesvorsitzende Lars Lamowski sagte, viele Schulen hätten sich klare Vorgaben vom Land erhofft, wer in den Notfallgruppen betreut werden kann. Außerdem sei nicht nachvollziehbar, weshalb die Kinder in den Pausen nur in getrennten Kleingruppen auf den Hof gelassen würden, aber in den Schulbussen alle gemeinsam fahren.
„Rumpfparlament“ tritt am Mittwoch zusammen
Die Sitzung des rheinland-pfälzischen Landtags wird am Mittwoch wegen der Corona-Krise mit weniger Abgeordneten stattfinden. Dies teilte Landtagssprecher Marco Sussmann am Montagnachmittag mit. Nach Rücksprache mit den Fraktionen werde das „Pairing“-Verfahren angewandt. Dabei sollen die Mehrheitsverhältnisse ebenso gewahrt bleiben wie die Beschlussfähigkeit des Landtags. Insgesamt soll die Anzahl der Parlamentarier und der Regierungsmitglieder unter 75 bleiben. Dem Landtag gehören 101 Abgeordnete an. Die AfD kritisiert die Entscheidung und votiert für eine Absage der Parlamentssitzung.
Bereits in der vergangenen Woche hatte sich das Mainzer Parlament darauf verständigt, die Tagesordnung auf die Regierungserklärung der Ministerpräsidentin und die Aussprache dazu sowie auf Gesetzesvorhaben zu beschränken. Statt wie üblich zweieinhalb Tage wird die Sitzung nur einen halben Tag dauern. Dabei fallen Aktuelle Debatten, mündliche Anfragen und Anträge weg. Die Verringerung der Sozialkontakte soll die Ausbreitung des Corona-Virus verlangsamen.
Pfälzerwald-Verein informiert über Hütten-Schließungen
Der Pfälzerwald-Verein (PWV) hat auf seiner Internetseite
www.pwv.de eine Liste der wegen des Coronavirus vorsorglich geschlossenen Hütten veröffentlicht. Diese Liste werde ständig aktualisiert, versicherte PWV-Geschäftsführer Bernd Wallner auf Anfrage. Bis Montagabend waren darin rund 20 Hütten aufgeführt, darunter die Edenkobener-, die Hohe Loog- und die Totenkopfhütte sowie das Weinbiethaus und das Waldhaus Starkenbrunnen. Insgesamt betreibt der Pfälzerwald-Verein rund 100 bewirtschaftete Häuser.
Die rheinland-pfälzischen Naturfreunde betreiben 32 Häuser, von denen sich die meisten in der Pfalz befinden. Wie beim Pfälzerwald-Verein entscheiden bei den Naturfreunden die einzelnen Ortsgruppen selbstständig, ob sie ihre Hütten vorsorglich schließen, sagte der stellvertretende Naturfreunde-Landesvorsitzende Stephan Schenk. Bisher sei ihm noch keine Hütten-Schließung bekannt geworden. Allerdings: „Uns brechen die Übernachtungs-Buchungen weg.“
Zwölf Tafeln setzen Lebensmittelausgabe aus
Wegen der Ausbreitung des Coronavirus haben einige Tafeln ihre Lebensmittelausgabe für Bedürftige ausgesetzt. Bis Montagvormittag seien zwölf Standorte in Rheinland-Pfalz betroffen gewesen, sagte die Vorsitzende des Landesverbandes der Tafeln, Sabine Altmeyer-Baumann. „Das ist kein Kinderspiel, solche Entscheidungen zu treffen.“ Eine Schließung habe schwerwiegende Konsequenzen für die Gäste. Grund für die Schließungen sei vor allem das Alter vieler ehrenamtlicher Helfer. Die Mehrzahl der 4700 Helfer in Rheinland-Pfalz sei über 60 Jahre alt. In einigen Einrichtungen könne zudem nicht genügend Abstand zwischen den Personen eingehalten werden. Viele Ausgaben von Nahrungsmitteln finden daher im Freien statt. Insgesamt gibt es 54 Tafeln in Rheinland-Pfalz. Landesweit sind 54.000 Gäste registriert. jüm/kad/lrs
Die Rheinpfalz Pfälzische Volkszeitung - Nr. 65 Dienstag, den 17. März 2020