Mit Übergepäck und viel Zuversicht
Die deutsche Nationalmannschaft startet heute in die Europameisterschaft. Gegner in Zagreb ist um 17.15 Uhr, live im ZDF, Montenegro.
Von Udo Schöpfer
Zagreb. Was war das denn für eine Woche?! Viele, die im deutschen Handball Rang und Namen haben, hoben den Finger und meldeten sich zu Wort. Heiner Brand, der frühere Bundestrainer, Daniel Stephan, der einstige Welthandballer, Spieler und Trainer Martin Schwalb und natürlich Michael Roth, der Trainer der MT Melsungen: Denn es ging um Melsungens Finn Lemke, den Abwehrstrategen, der beim Gewinn der Europameisterschaft 2016 so groß auftrumpfte, am Sonntag aber von Bundestrainer Christian Prokop ausgemustert wurde. Prokop erklärte gestern vor seinem ersten großen Turnier noch einmal, dass der Kader in der jetzigen Form länger in ihm gereift sei, dass er die Form der Spieler in vielen Bundesliga-Spielen verfolgt und überprüft habe. Und auch seine Eindrücke während der Lehrgänge vor und nach Weihnachten eine Rolle spielten.Für Finn Lemke wird wohl der Leipziger Bastian Roschek (27) eine zentrale Rolle in der Defensive spielen. „Ich habe eher nicht mit meiner Nominierung gerechnet“, verriet er. Wie sieht der Kapitän die Diskussionen? „Es war ja schon Ende Dezember klar, dass vier Spieler nicht mitfahren werden. Das war eine ganz, ganz schwere Entscheidung. Es war schon eine kleine Überraschung. Christian hat eine ganz klare Struktur im Kopf, und er hat die Spieler systembedingt ausgewählt. Für die Spieler, die zu Hause bleiben mussten, ist das natürlich sehr schwierig. Ich war ja selbst schon in so einer Situation“, sagte Uwe Gensheimer.
Der 31-Jährige gibt als erstes Ziel aus, die jüngsten Leistungen und die gute Stimmung aufs Parkett zu bringen. „Wir sind extrem schwer auszurechnen, wir können von jeder Position aus extrem viel Druck ausüben“, erklärte der Kapitän, der bei der letzten Europameisterschaft in Polen wegen einer Verletzung nur in der Zuschauerrolle war. „Ziel ist es, in der Vorrunde so viele Punkte wie möglich zu sammeln, um weiter Selbstvertrauen zu sammeln, nicht zu weit zu denken. Wir müssen die Leistung konstant abrufen, das ist die Kunst“, gab der Linksaußen als Losung aus. Weil gerade EM-Zeit ist, nur ein kurzer Schwenk nach Paris, wo Gensheimer seit eineinhalb Jahren für Paris St. Germain spielt. „Ich habe den Schritt nicht bereut, fühle mich nach wie vor wohl dort, bin, glaube ich, sehr, sehr gut angekommen, sportlich und menschlich“, betonte das frühere Aushängeschild der Rhein-Neckar-Löwen gegenüber der RHEINPFALZ. All das, was er sich erhoffte, ist jedoch noch nicht ganz in Erfüllung gegangen. „Wenn wir im vergangenen Jahr das Champions-League-Finale nicht verloren hätten, dann ja“, meinte er. Das Thema Vertragsverlängerung bei Paris St. Germain wurde ihm zuletzt etwas zu hoch gehängt, wie ist da aktuell der Stand der Dinge? „Es gibt noch keinen Stand der Dinge“, betonte er.
Den heutigen Gegner Montenegro schätzt Bundestrainer Christian Prokop als wurfgewaltige Mannschaft ein, die diverse (aggressive) Abwehrformationen in petto hat. Torjäger Vuko Borozan vom Champions-League-Sieger Vardar Skopje fällt nach einem Unfall ebenso aus wie Torwart Nebojsa Simić vom Bundesligisten MT Melsungen wegen einer Wadenverletzung. Bekannt sind noch aus der Bundesliga die Spieler Vladan Lipovina (TV Hüttenberg) und Stefan Cavor (HSG Wetzlar). Am Montag (Slowenien) und am Mittwoch (Mazedonien) folgen die beiden anderen Gruppenpartien für den Titelverteidiger.
Bundestrainer Christian Prokop gab gestern schmunzelnd zu, dass er am Donnerstag mit Übergepäck die Flugreise von Berlin nach Zagreb angetreten hat, auch, weil ihm von der Familie der eine oder andere Glücksbringer mitgegeben wurde. Eine Verbindung zwischen dem Gepäck und der (erhofften) Verweildauer der deutschen Mannschaft in dem EM-Turnier wollte er aber auf Nachfrage nicht sehen …
Interview: „Wir müssen die Nerven behalten“
Bob Hanning, wie empfinden Sie als DHB-Vize die Stimmung vor dem Start?
Motiviert, konzentriert, aber angespannt.
Der Bundestrainer hatte bei der Nominierung die Qual der Wahl, es gab Aufregung um das Aus von Abwehrchef Finn Lemke, wie haben Sie das Ganze wahrgenommen?
Diese große Auswahlmöglichkeit gab es nicht immer.In der Tat, ich entsinne mich noch, als ich selbst Co-Trainer der deutschen Mannschaft war, wir bei einem Turnier in Spanien gespielt haben, da lagen Heiner Brand und ich jeder in seinem Bett mit den einschlägigen Zeitungen und schauten, welchen Spieler wir eigentlich noch nachnominieren können. Wir haben damals händeringend nach Talenten gesucht und sind dann schließlich bei einem 38-Jährigen geendet, weil wir keine Alternativen hatten.
Und heute …Heute kann der Bundestrainer aus einem Pool von 30 bis 35 Spielern aussuchen. Das zeigt, wie wir uns als Sportart entwickelt haben. Und auch die Diskussion um die Nicht-Nominierten zeigt, wo wir mittlerweile angekommen sind. Das hatte schon Fußball-Verhältnisse. Und das macht mich auch besonders glücklich.
Wie schätzen Sie das Leistungsvermögen der Mannschaft ein?
Das ist vor dem ersten Spiel immer schwer zu sagen. Ich würde ungern auch die Spiele gegen Island überbewerten. Ich fand, die Isländer haben gegen uns extrem schlecht agiert, nichtsdestotrotz haben wir es gut gelöst. Grundsituation ist, wir wollen möglichst weit kommen, natürlich träumt jeder vom Halbfinale.
Wo sehen Sie die Stärken des deutschen Teams?
Die mannschaftliche Geschlossenheit und ihre Leidenschaft – mit herausragenden Torhüterleistungen dahinter.
Was für ein Balkan-Express rollt da in der Vorrunde auf die deutsche Mannschaft zu?
Dreimal gegen Mannschaften aus dem früheren Jugoslawien, das ist schon was Besonderes. Das wird sehr emotional, sehr heißblütig. Wir müssen schauen, dass wir die Nerven behalten.
Das Positive analysieren, aber auch auf das Negative schauen: Welche Lehren ziehen Sie aus dem frühen Aus bei der WM in Frankreich gegen Katar?
Für die Niederlage gab es vielfältige Gründe, wir hatten nicht die notwendige Konzentration, wir waren nicht bereit, den Schritt zu machen, der notwendig war, um auf ganz hohem Niveau bestehen zu können. Das ist uns ein Stück verloren gegangen. Vielleicht, weil wir ein bisschen zu selbstsicher waren. Durch die Umbesetzung des Kaders, Dahmke raus, Pekeler rein, war es nicht ruhig.
Interview: Udo Schöpfer
Quelle
Die Rheinpfalz Pfälzische Volkszeitung - Nr. 11, Samstag, den 13. Januar 2018