"Dehäm iss dehäm"
Serie über die Stars der Weltmeisterschaften: Fritz Walter, der zeitlos Berühmte.
Von Hans Werner Kilz (Süddeutsche zeitung: 23.12.2005)
Der Ullevi-Park in Göteborg, architektonisch ein Glanzstück unter den Stadionbauten, war mit 49471 Zuschauern voll besetzt. Die Fahnen über der elegant geschwungenen Stadionschüssel flatterten so ungestüm im Wind, als wären sie Vorboten der plötzlich einsetzenden Turbulenzen. Auf den Rängen tobte ein Orkan der Leidenschaft: „Heja, Sverige, friskt humör, det är det som susan gör, heja, heja, heja!“, skandierten die schwedischen Fans, was auf Deutsch etwa heißt: „Auf geht’s Schweden, mit Schwung. Jetzt lassen wir’s knallen!“ Die Einpeitscher, vor den Stehplatzrängen postiert, nutzten Megaphone und Stadionmikrofone, um die schwedischen Fußball-Anhänger in Stimmung zu bringen.
Auf dem Spielfeld ließ sich Fritz Walter vom Radau nicht beeindrucken. Seelenruhig servierte er seinen Mitstürmern Rahn, Schäfer und Seeler genaue Vorlagen, trieb sie nach vorn zum schwedischen Tor. Deutschlands Fußball-Nationalmannschaft wollte an diesem 24. Juni 1958, vier Jahre nach dem Triumph von Bern, wieder ins Endspiel kommen – diesmal gegen die Zauberer aus Brasilien, gegen Didi, Vava, Pelé und Garrincha, die einen Fußball boten, wie ihn die Deutschen in dieser technischen Perfektion noch nie gesehen hatten. Das Drehbuch des Dramas von Göteborg sah es anders vor: Fritz Walter, der geniale Regisseur, blieb eine Viertelstunde vor Schluss – beim Stand von 1:1 – nach einem Zusammenprall liegen, wurde verletzt vom Platz getragen. Minuten später humpelte er mit verbundenem Knie zurück auf den Rasen, unfähig, sich gegen die drohende Niederlage zu stemmen. Die Schweden machten noch zwei Tore, Deutschland war ausgeschieden. Fritz Walter, mit fast 38 Jahren der Senior der Mannschaft, schlich auf Socken, die Stollenstiefel in der Hand, wie gedemütigt in die Kabine. Es war sein 61. Länderspiel, sein letztes. Er wollte nicht mehr.
Vier Jahre zuvor war er Weltmeister geworden, einer der Helden von Bern, zweimal Deutscher Meister mit seinem 1.FCKaiserslautern, ein Vorbild für die Jungen, eine Legende. Kaiserslautern ehrte ihn mit einer Urkunde als „populärsten Bürger der Stadt“, schenkte ihm einen Bauplatz, um ihn an die pfälzische Heimat zu binden. Selbst die damals ungewöhnlich hohe Summe von 250.000 Mark Handgeld reizte ihn nicht, für Atletico Madrid zu spielen. Die Bindungen an den deutschen Fußball, an seinen Klub in der Pfalz und an seinen Lehrmeister Sepp Herberger, den er ehrfurchtsvoll „Chef“ nannte, blieben stärker als ein fürstliches Gehalt. Die Entscheidung, Deutschland zu verlassen und nach Italien oder Spanien zu wechseln, hätte den Mythos der Nationalmannschaft zerstört, zu damaliger Zeit auch Fritz Walter auf ewig diskreditiert.
Der Tugendheros aus der Pfalz hat sogar die Phantasie der Spielfilm-Produzenten beflügelt. Das Drehbuch eines geplanten Melodrams, in dem er selber die Hauptrolle spielen sollte, sah eine Szene besonderer Dramatik vor, die Fritz Walter als ungewöhnlich treu, gutgläubig und ehrenhaft zeigen sollte: Er widersteht ungerührt den Lockungen ausländischer Manager einschließlich eines Verführungsversuchs durch das Mädchen Madeleine. Doch wird er durch einen falschen Freund letztlich überlistet, gibt statt eines Autogramms versehentlich eine Vertragsunterschrift. Er sieht sich unfreiwillig nach Uruguay verkauft, entreißt im Pariser D-Zug dem Manager Z. den Vertrag, zerfetzt ihn, springt vom fahrenden Zug, reist ins Trainingslager zurück, weckt Herberger und meldet: „1:0 für Deutschland!“
„Die Werte, die Fritz Walter verkörperte“, sagt voller Hochachtung Franz Beckenbauer, „gibt es heute nicht mehr.“ Walter gehörte wie Max Schmeling zu den Sportlern, die zeitlos berühmt bleiben. Er stand für Tugenden wie Bescheidenheit, Anständigkeit, auch Treue, Ehre und Hilfsbereitschaft. Die Öffentlichkeit nahm ihm ab, dass der Fußball zu seiner Zeit so rein und unschuldig war, wie er ihn später immer wieder schilderte.
Fritz Walter schien seinen Nachfolgern, den Spielmachern Netzer, Overath, Schuster und Magath, nicht zu neiden, dass sie in der Bundesliga oder im Ausland so viel mehr verdienten als er. „Wir haben die schönere Fußballzeit erlebt“, sagte er ohne Pathos über eine Zeit, in der „alles viel familiärer und kameradschaftlicher“ war. Die Nation dankte es ihm, wenn er aufrichtig und stolz hinzufügte: „Wir waren Fußballweltmeister, und wir waren wieder wer.“
Gründungsvater der Republik
Zu Fritz Walters 80. Geburtstag hat der damalige Bundespräsident Johannes Rau gesagt, der Jubilar habe „das Bild der Deutschen in der Welt sympathischer gemacht“, der Pfälzer kämpfte mit den Tränen. Dass er „an der Geschichtsgestaltung nach 1945 sichtbar mitgewirkt“ haben sollte, wie es ihm Altbundeskanzler Helmut Kohl bescheinigte, empfand der schüchterne Lauterer als unangenehme Übertreibung. Er sah sich, wie der Spiegel formulierte, „eher als kickenden Anachronismus denn als historische Figur“. Doch der Gewinn der Weltmeisterschaft von 1954 wirkte weit über den Fußball hinaus. „Das Spiel“, schrieb der Rundfunkreporter Rudi Michel, der ihn mit am besten kannte, „war eine Art Befreiung der Deutschen von all dem, was auf ihnen lastete.“ Und Fritz Walter gehörte plötzlich, neben den Politikern Konrad Adenauer und Ludwig Erhard, zu den Gründungsvätern der Republik. Dabei war er immer, wie er selber sagte, „mit beiden Beinen auf dem Boden und ein normaler Mensch geblieben“.
Die ungewöhnliche Karriere begann Anfang der zwanziger Jahre. Der kleine Fritz ging in Kaiserslautern zum feineren FCK, weil seine Mutter Berlinerin war, hochdeutsch redete und ein paar Fußballschuhe für ihren Sohn verlangte, die der benachbarte Arbeiterklub VfR Kaiserslautern nicht bieten konnte. Es waren also die Fußballschuhe, die Schicksal spielten, wie es bei Franz Beckenbauer die „depperte Watsch’n“ war, die ihm beim Lokalrivalen 1860 München verpasst wurde und ihn aus Zorn zu den Bayern führte. Mit 18, in der Saison 1938/39, spielte Fritz Walter in der Bezirksliga, mit 19 gab er am 14. Juli 1940 beim 9:3 gegen Rumänien ein gelungenes Debüt in der Nationalmannschaft. Beim Einlaufen wirkte er wie ein verschüchterter Schulbub, auf dem Platz wandelte er sich zu einer starken, spielbestimmenden Persönlichkeit. Drei der neun Tore schoss er selbst.
Als nach dem Krieg die Vereine aus Schutt wieder Fußballplätze herrichteten, kämpfte der 24 Jahre alte Fritz Walter 2000 Kilometer weiter östlich in einem russischen Kriegsgefangenenlager in Marmara-Sziget ums Überleben. Das Wachpersonal war von seinen Fußballkünsten so stark beeindruckt, dass es ihn unbedingt in seiner Mannschaft haben wollte und vor dem tödlichen Transport nach Sibirien bewahrte.
Er brauchte Heimat
Ausgelaugt stand er ein Jahr später in Kaiserslautern vor verbrannten und verwüsteten Häusern und lief zum Verzücken hungernder Menschen schon wieder der Lederkugel hinterher. „Dehäm iss dehäm“, hat er gern gesagt, weil er Heimat brauchte, um sich wohl zu fühlen. 53 Jahre lang war er mit der gleichen Frau, seiner Italia, verheiratet.
Wer den Mann mit der Rückennummer zehn auf dem Betzenberg in Kaiserslautern, in der Oberliga Südwest oder bei Endrunden um die deutsche Fußballmeisterschaft spielen sah, wird die Bilder nie vergessen. Sein Instinktfußball verzauberte Millionen. Er beherrschte so ziemlich alles, was der Fußball an technischer Raffinesse zu bieten hat: das überraschende Kurzpassspiel, den direkten Pass in den Lauf des Mitspielers, die gefühlvolle Flanke ebenso wie den Absatzkick und den Eckball mit Effet. Er schlenzte das Leder mit der Hacke über den eigenen Kopf, mitunter direkt ins gegnerische Tor. „Fritz Walter interpretierte Fußball“, hat der Sportpublizist Gerd Seehase geschrieben, „als Kunst einer Improvisation.“
Sepp Herberger vernarrte sich früh in den Alleskönner, machte ihn zum Spielmacher unter den ganz Großen und damit zum „ungekrönten König“ seiner Generation. Der Krieg stoppte die Karriere.
Im Alter zwischen 21 und 29 Jahren, den besten im Leben eines Fußballers, musste Fritz Walter ohne Nationaltrikot auskommen. Doch für Herberger war es selbstverständlich, auf den Pfälzer zu setzen, als die deutsche Nationalmannschaft 1950 wieder am internationalen Spielbetrieb teilnehmen durfte. Ein Jahr später gewann Fritz Walter mit dem 1. FC Kaiserslautern zum ersten Mal die deutsche Fußballmeisterschaft, und vier Jahre später führte der Pfälzer die deutsche Nationalmannschaft in der Schweiz zum Sensationssieg über die als nahezu unschlagbar geltenden Ungarn. Deutschland war Fußball-Weltmeister und damit auch sonst wieder wer.
Der Ehrenspielführer der Nationalmannschaft war weder ein Rebell noch ein verbissener Ehrgeizling oder gar allürenhafter Star. Fritz Walter war ein Antistar, gegenüber seinem Trainer-Psychologen Herberger ein gut erzogener Untertan, dem er vertraute wie ein Kind. Vielleicht waren die beiden das harmonischste Gespann, das es je im deutschen Fußball gab. Und anders als bei vielen anderen berühmten Menschen musste in den Nachrufen auf Fritz Walter, als er am 17.Juni 2002 starb, auch nicht gelogen werden. Dazu war dieser Mann einfach zu aufrichtig, zu treu und zu bescheiden.